VOLLENDEN SIE!

VOLLENDEN SIE!

Der oberösterreichische Komponist Balduin Sulzer hat einem Kollegen - der nach den Anstrengungen zu seiner Fünften genug vom Sinfonien schaffen äußerte - geraten, zumindest noch eine Unvollendete anzufangen. Wer das Unvollendete nicht wagt, braucht die Vollendung gar nicht erst zu fürchten. Die Gründe, etwas nicht fertig zu bringen, können mannigfaltig sein. Der Tod einer Schöpferin, eines Schöpfers ist ein triftiger Grund, dem wir alle entgegenleben. Bei der Knappheit von nur 31 Jahren, die Franz Schubert am Leben war, könnte man schnell vermuten, dass er seine Sinfonie nicht mehr fertigstellen konnte. Irrtum! Schubert hat nur zwei Sätze davon ausgearbeitet und diese 1822, sechs Jahre vor seinem Tod, feinsäuberlich in eine Partitur gegossen. Das Manuskript endet mit einem neuntaktigen Beginn eines dritten Satzes, von dem 1968 weitere elf Takte aufgefunden wurden. Nach der Uraufführung 1865 schrieb der Wiener Großkritiker Eduard Hanslick: „Wir müssen uns mit zwei Sätzen zufrieden geben, die [...] auch neues Leben in unsere Concertsäle brachten.“ Nur weil die Norm der Viersätzigkeit nicht eingehalten wurde, von Unvollendung zu sprechen, ist eine unerhörte Anmaßung. Spekulationen, warum sie so ist, wie sie ist, gibt es so viele, dass der Sinfonie der Beiname Rätselhafte zustehen müsste. Wenn wir ehrlich sind, wollen wir einfach nur mehr von dem, was uns Franz Schubert zweisätzig hinterlassen hat. Das ist wahre Vollendung!

Eine andere Frage ist, ob die Erstfassung einer Sinfonie, die der Komponist in weitere Fassungen bringt, als unvollendet gelten muss? Die vielen Fassungen der Bruckner-Sinfonien haben unterschiedliche Beweggründe. Vollendung muss kein betonierter Status sein. Vielleicht wohnt Anton Bruckner, der auf seinen raren Touren tausende Menschen mit seinen Orgelimprovisationen in den Bann gezogen hat, der Habitus eines Jazzmusikers inne, der auch in seinem kompositorischen Schaffen Ausdruck findet, in dem er heute diese und morgen eine andere Version anbietet. Die Erstfassung der Dritten, die Peter Gülke als „schwieriges Durchbruchswerk“ bezeichnete, hat mit 2052 Takten die größte Ausdehnung aller seiner Sinfonien. Richard Wagner hat er sie neben der Zweiten zur Widmung nach Bayreuth angetragen. Der „Meister aller Meister“ entschied sich zur Freude Bruckners für die Dritte, die mit der Annullierten Sinfonie („Nullte“) und dem Torso der Neunten die Tonart d-moll teilt. Bruckner erklärte seine Dritte noch zwei weitere Male für „fertig“. (Genauso steht es in der Partitur!)

Wie weit und ob Fertigwerden etwas mit Vollendung zu tun hat, braucht in diesen sinfonischen Fällen nicht nach Antwort suchen. Wir dürfen aber eines nicht vergessen, dass sich noch so vollkommene Musik erst im Moment des Erklingens in uns vollendet (oder anfängt). Die Vollendung beginnt bei uns, im Zuhören. Immer wieder, auch heute.

EIN ZURUF

von Norbert Trawöger

 

Foto: Volker Weihbold

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