musik und die wirklichkeit

musik und die wirklichkeit

von Markus Poschner

 

Ein Schmetterling sieht, was er sieht, der Mensch aber glaubt, was er zu hören oder zu sehen meint. Um uns zurechtzufinden, müssen wir uns Bilder von der Welt machen, die aber immer nur Deutungen sind.

 

Dieses Weltdeutungsbedürfnis ist Ursache aller Religion, aller Wissenschaft, allen Forscherdrangs – vor allen Dingen aber auch Ursprung der Kunst. All diesem Streben gemeinsam ist dabei die Suche nach Antworten auf die Frage nach dem Wie und dem Warum.

Der Wiener Physiker Anton Zeilinger schrieb einmal: „Es ist ganz offenkundig sinnlos, nach der Natur der Dinge zu fragen, da eine solche Natur, selbst wenn sie existieren sollte, immer jenseits jeder Erfahrung ist.“

Wie wirklich ist also die Wirklichkeit? Und welche Rolle spielt dabei unser Hören, unser Empfinden, unser Sehen? Derselbe Wiener Physiker vermutete, dass die sogenannte Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist. Er kam zu dem Schluss, „es mache offenkundig keinen Sinn, über eine Wirklichkeit ohne die Information darüber zu sprechen. Wir können die Wirklichkeit nicht ermessen, womit zugleich jede Aussage, etwas sei übernatürlich, unsinnig ist.“ Anscheinend gibt es natürliche Grenzen sinnvollen Fragens. Die Welt ist wohl unendlich viel komplizierter, als sie uns erscheint.

 

Was täten wir nun ohne die Kunst? Sie tritt als unser Scharnier zur Außenwelt auf, sie sorgt letztlich dafür, dass wir die Welt wahrnehmen und sehen. Man könnte sagen, der Auftrag von Kunst ist es, die Welt begreifen zu können. Wenn man einen Sonnenuntergang sieht, wird man ihn möglicherweise über den großen englischen Maler der Romantik William Turner sehen, geheimnisvolle Landschaften über Caspar David Friedrich und beklemmende Situationen über Franz Kafka erleben. Ein Gipfelerlebnis nach einer anstrengenden Bergwanderung wird möglicherweise erst dann in seinem vollen Ausmaß spürbar, wenn einem schon mal Bruckners Achte passiert ist und die eigene tiefe Traurigkeit kann einem selbst erst über das Eintauchen in die unbeschreibliche Welt des Franz Schubert richtig begreifbar werden.

 

Der Künstler ist nicht angetreten, um Kunst für die Menschen zu machen, er macht Kunst der Menschen – das ist ein riesiger Unterschied. Die Kunst ist letztlich dafür verantwortlich, wie man die Zeit sieht. Viele wichtige Konzepte, die sprachlich nur undeutlich definiert sind, wie beispielsweise Liebe, Verzweiflung oder Glück, können mit Musik viel eindeutiger vermittelt werden, als über unsere Alltagssprache. Es ist ja bezeichnend, dass uns die Sprache als Ausdrucksmittel des menschlichen Innenlebens evolutionär betrachtet erst viel später zur Verfügung stand als die Musik, wie uns beispielsweise der Fund einer fast 40.000 Jahre alten Schwanenknochenflöte beweist. Unsere Beobachtung bestimmt, welches Bild von der Wirklichkeit wir bekommen. Die Kunst wiederum prägt unser Beobachten. Selten zuvor war das Abhandenkommen von Kunst in unserem Lebensalltag so schmerzhaft spürbar wie jetzt während der Corona-Pandemie. Sofort war zu erleben, wie sich gleichsam der Lebenssinn und das Erleben zu verflüchtigen begann beziehungsweise durch hektische Neuorientierung und nervöse Selbstfixierung ersetzt wurde. Ein altbekanntes Phänomen: Das Zählen und Besitzen steigert temporär die Bedeutung, aber mindert den Sinn. Wie so oft erfahren wir erst den wahren Wert einer Sache oder eines Zustandes über sein Verschwinden, über seine Nichtverfügbarkeit.

 

Ernsthaft Kunst machen ist allerdings auch ein Fluch. Man muss an das glauben, was man tut und die Wahrscheinlichkeit, dass das, was man tut, umsonst ist, ist tausendmal größer als die Chance, wirklich verstanden zu werden. Die Künstler arbeiten nicht für das Normale, sondern für das Absolute, das Maximum: „Mir fehlt etwas, wenn ich keine Musik höre, und wenn ich Musik höre, fehlt mir erst recht etwas“, wie es Robert Walser formulierte. Was bleibt, ist die unendliche Sehnsucht nach dem Sinn.

 

Ein Kunstwerk ist immer mehr als nur ein Zeitdokument – Kunst beschäftigt sich mit unserem Leben, Kunst betrifft uns, Kunst kann niemals aus der Distanz betrachtet werden. Unser heutiges Leben ist das Maß des Erzählens, wir müssen die Kunstwerke der Geschichte immer wieder entreißen. Der Interpret kann dabei niemals in die Haut des Komponisten schlüpfen. Wenn ein Stück gut ist, erlaubt es viele Standpunkte, es gibt so gesehen gar keine Authentizität. An der Musik interessiert ausschließlich das Jetzt. Auch das Werk muss sich uns gegenüber immer wieder neu beweisen. Und dafür wird es in unserer hoffentlich uneingeschränkten neuen Saison wieder höchste Zeit!

 

Markus Poschner
Chefdirigent

 

Foto: Zoe Goldstein

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